Update im Fall Wirecard / Ernst&Young; Einladung für follow-up-Webinare am 08. und 20. Juli
(08.07.2021)
In diesem Artikel berichten wir über den aktuellen Sachstand im Fall Wirecard / Ernst&Young.
Das Wichtigste vorab:
- Neue Beweismittel helfen uns
- Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses
- „Concurrence Memorandum“
- Wambach-Bericht
- Interne Unterlagen von WIRECARD und EY
- weitere eigene Untersuchungen
- Neue Einschätzungen zum „Masterplan“ bei EY: Es wäre ein Fehler, auf Musterverfahren zu warten. Die Devise lautet „Angriff jetzt“!
- Bislang haben wir Klagen für 1.160 Kläger eingereicht. Erste Verhandlungstermine bei Gericht stehen an.
- Besuchen Sie unsere Webinare am 08. Juli (Deutsch) oder 20. Juli (Englisch), jeweils um 18 Uhr deutscher Zeit.
1. Wichtige neue Beweismittel
Es gibt wichtige neue Beweismittel für unsere Klageverfahren gegen EY. Diese stellen wir Ihnen kurz vor.
1.1 Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses
Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss hat eine Vorabfassung seines Berichtes vorgelegt. Das Dokument ist 2.026 Seiten lang. Wir werten den Bericht derzeit unter Einbeziehung von Experten aus.
Besonders bemerkenswert finden wir folgendes:
Ein großes Rätsel bei WIRECARD ist das „third party acquirer“-Geschäft, das Wirecard (angeblich) in verschiedenen Teilen der Welt betrieb. Zur Erklärung: Diese angeblichen „third party acquirer“ oder „TPA“ sollten eine Art Subunternehmer in Ländern sein, in denen Wirecard selbst die erforderlichen Lizenzen nicht besaß oder das Geschäft aus anderen Gründen nicht selbst betreiben wollte. Die „TPA“ sollten also – angeblich – die Endkunden für Rechnung von Wirecard bedienen. Aber: Wie Insolvenzverwalter Jaffé bestätigt, hat dieses Geschäft niemals existiert. Daher bauten sich in den Bilanzen von EY bis zum Jahre 2015 immer höhere (angebliche) Forderungen auf. Denn aus einem nicht existierenden Geschäft konnte man natürlich auch keine Erträge erzielen. Hieraus ergaben sich Schwierigkeiten in der Jahresabschlussprüfung, denn Forderungen, die über Jahre hinweg nicht beglichen werden, müssen irgendwann wertberichtigt werden. Die Lösung: Wie der Parlamentarische Untersuchungsausschuss ermittelt, soll EY selbst eine entscheidende Rolle dabei gespielt haben, diese Forderungen in Treuhandkonten umzudeklarieren. Was für ein dreister Zaubertrick: Auf diesem Weg konnte WIRECARD so tun, als sei das Geld aus den TPA-Geschäften bereits eingegangen und liege nun auf den Treuhandkonten! Wenn EY dabei mitgespielt hat, dann ist auch der Vorsatz beweisbar.
1.2 Das „concurrence memorandum“ vom 3. März 2016
Uns ist es gelungen, ein geheimes Abstimmungsdokument zwischen EY und Wirecard sicherzustellen, das sich genau auf dieses „third party acquirer“-Geschäft bezieht. Dieses Abstimmungsdokument dazu haben EY und Wirecard in englischer Sprache abgefasst und als „concurrence memorandum“ bezeichnet. Mit dem englischen Wort „concurrence“ ist nicht „Konkurrenz“ im deutschen Sinne gemeint, das Wort ist vielmehr mit „Übereinstimmung“ zu übersetzen – es handelt sich also um eine schriftliche Einvernehmenserklärung zwischen EY und Wirecard über die Existenz bestimmter Sachverhalte. In diesem Dokument listet EY eine Vielzahl von Annahmen über das „third party acquirer“-Geschäft auf und lässt sich diese von Wirecard bestätigen und gegenzeichnen. Das Dokument wurde von drei hochrangigen EY-Partnern, darunter der später zur Deutschen Bank gewechselte Andreas Loetscher, sowie den zwei führenden Wirecard-Mitarbeitern Burkhard Ley und Stephan von Erffa unterschrieben.
Das hier beschriebene Vorgehen ist ausgesprochen sonderbar. Normalerweise wäre es Sache von EY gewesen, sich die einschlägigen Verträge selbst anzuschauen und die Buchungen zu überprüfen, bis die Geschäfte nachvollzogen werden konnten. Das ist schließlich die Kernaufgabe eines Wirtschaftsprüfers. Keineswegs kann ein Bestätigungsschreiben des Kunden WIRECARD – der ja gerade geprüft werden soll – die eigene Prüfungsarbeit ersetzen. Das ist erst recht dann abwegig, wenn es um behauptete Treuhandguthaben von zuletzt fast 2 Mrd. EURO und das gesamte zugrundeliegende TPA-Geschäft geht.
Betrachtet man die Aussagen und Bestätigungsbitten, die das „concurrence memorandum“ enthält, so entsteht der überwältigende Eindruck, dass EY in diesem Dokument gar nicht wirklich Verständnisfragen stellt. Vielmehr scheint sich EY eine Rückversicherung aufbauen zu wollen, weil in Wahrheit schlimme Fehlentwicklungen bereits deutlich erkannt worden waren. So lässt sich EY unter anderem bestätigen, dass:
- Wirecard selbst – nicht hingegen die TPA-Partner – der „key contact“ zu den Endkunden sei und die Kommunikation mit diesen unterhalte,
- Wirecard selbst die Endkunden kenne („Wirecard knows these merchants“),
- es sich ökonomisch betrachtet um eigenes Geschäft von Wirecard handele („it is Wirecard´s business from an economic point of view“),
- Wirecard selbst über die Annahme von Endkunden entscheide und deren Risiko evaluiere, außerdem auch Endkunden mit schlechtem Risikoprofil ablehnen könne,
- Wirecard selbst den TPA-Partner auswähle und diesen auch jederzeit durch einen anderen TPA-Partner ersetzen oder das Geschäft mit den Endkunden zu sich selbst heranziehen könne.
Wenn man dieses Dokument liest, fragt man sich: Was hätten diese Bestätigungen bewirken sollen? Wie passt dieses ganze Vorgehen überhaupt zu der Verantwortung eines Jahresabschlussprüfers, der selbst und eigenverantwortlich zu prüfen hat, damit sich alle anderen Marktteilnehmer sodann auf das von ihm erteilte Testat verlassen können? Warum hat sich EY nicht eine Liste der angeblichen Endkunden vorlegen lassen und diese zumindest stichprobenhaft überprüft? Warum hat sich EY nicht die Kommunikation mit ausgewählten Endkunden vorlegen lassen? Warum hat sich EY keine Verträge angesehen, wie es Aufgabe eines Jahresabschlussprüfers wäre? Warum hat sich EY als verantwortlicher Jahresabschlussprüfer nicht die wirklichen Zahlungsflüsse vorlegen lassen? Warum hat man diese Zahlungsflüsse dann nicht – wie in der Wirtschaftsprüfung üblich – im Wege von „walk-throughs“ in einer ausreichenden Zahl von Fällen nachgeprüft? Warum sind die angeblichen Treuhandkonten, auf denen 10-stellige Beträge liegen sollten, nicht ordnungsgemäß mittels direkt einzuholender Bankbestätigungen überprüft worden? Warum ist nichts, buchstäblich nichts, von alledem gemacht worden, was das eigene Prüfhandbuch von EY für die Jahresabschlussprüfung vorschreibt?
Die Antwort liegt auf der Hand: Diese und noch viele weitere unterlassene standardmäßige Prüfverfahren hätten die Wirecard-Bilanzfälschungen und das Lügengeflecht bereits vor Jahren auffliegen lassen. Und das wollte man auf Seiten von Wirecard, aber offenbar auch auf Seiten von EY, unbedingt vermeiden. Dies passt zu der Stellungnahme von Wirecard-Finanzchef Burkhard Ley gegenüber dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, wonach EY selbst es gewesen sei, die das System der Treuhandkonten vorgeschlagen hätten. Auch dies würde entscheidend für Vorsatz auf Seiten von EY sprechen.
1.3 Der Wambach-Bericht für den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss
Der Wambach-Bericht ist ein von Wirtschaftsprüfer Martin Wambach erstatteter Sonderbericht im Auftrag des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Wambach ist geschäftsführender Partner bei Rödl & Partner und Vorstandsmitglied des Instituts der Wirtschaftsprüfer. Der Bericht befasst sich mit den Fehlleistungen von EY bei der Prüfung der Wirecard AG. Der Bericht ist sachlich im Ton, aber überaus klar und professionell in der Sache. Wir möchten an dieser Stelle ein Zitat wiedergeben:
„Eine kritische Grundhaltung fehlte, banalste Rechnungslegungs- sowie Qualitätsstandards wurden vernachlässigt und Warnsignale wurden geflissentlich übersehen.“
Cansel Kiziltepe (SPD-Vertreterin im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss) fasst den Bericht mit den Worten zusammen: „Der Wambach-Bericht ist ein vernichtendes Urteil für EY“.
Wir meinen, dass die rechtliche Beurteilungsgrundlage in unseren Schadensersatzprozessen gegen EY sehr nützlich sein wird. Wir können uns kaum vorstellen, dass Richter sich über die Einschätzungen eines Branchenprofis wie Martin Wambach hinwegsetzen. Wir beantragen in unseren eigenen Verfahren, ihn ebenfalls als Gutachter anzuhören. Er sollte unsere Position nachhaltig stärken.
1.4 Interne Dokumente von WIRECARD und EY
Zunehmend sickern interne Dokumente von WIRECARD und EY durch. Teilweise hat der Parlamentarische Untersuchungsausschuss diese Dokumente bereits auswerten können, teilweise machen wir das selbst. Ein Beispiel, hier zitiert nach dem Sondervotum der Oppositionsfraktionen zum Abschlussbericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses:
„Die in elektronischem PDF-Format der Wirecard AG, aber auch den EY-Abschlussprüfern vorliegende, vorgebliche Saldenbestätigung der Citadelle vom 2. Dezember 2016 lässt sich durch „Doppelklicken“ auf die Objektfelder mit der Unterschrift und dem Unternehmensstempel näher untersuchen.
Beide angeblich von Herrn Shanmugaratnam Rajaratnam getätigten Unterschriften auf diesen Bestätigungen sowie beide angeblich zu Citadelle gehörigen Stempelaufdrucke lassen sich im PDF jeweils mit einem „Doppelklick“ anwählen, was zur Folge hat, dass sich ein Objektfeld öffnet, welches ein Datum sowie den Namen „Oliver“ enthält. Die genannten Elemente „Unterschrift“ und „Stempel“ wurden also in das Dokument hineinkopiert.
Ergänzend tritt hinzu, dass der in den Objektfeldern hinterlegte Zeitstempel ein Datum aus dem Jahre 2017 trägt und damit einen substanziellen Hinweis auf eine Rückdatierung des elektronischen Dokuments liefert.“
Auch diese Dokumente erhärten unseren Sachvortrag, wonach EY bei den Prüfungshandlungen und den beanstandungsfreien Testaten „gewissenlos“ und „nachlässig“ im Sinne der einschlägigen BGH-Rechtsprechung gehandelt hat. Das müsste also für den Vorsatznachweis im Sinne der BGH-Rechtsprechung ausreichen.
1.5 Weitere eigene Prüfungen
Mehrere Wirtschaftsprüfer – darunter auch frühere Mitarbeiter von EY – durchleuchten für uns laufend die Verteidigungsschriftsätze von EY und weitere Dokumente. Wir vertiefen unsere Kenntnis des Sachverhaltes auf nahezu täglicher Basis. Zudem verfolgen wir selbstverständlich weiterhin die Entwicklungen im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Alle Erkenntnisse, die wir erlangen, fließen in unsere gerichtlichen Schriftsätze ein.
2. Was ist die übergeordnete Strategie von EY? Besteht ein „Fluchtplan“ aus Deutschland? Oder können Anleger gefahrlos ein Musterverfahren abwarten (Dauer > 10 Jahre)?
Wichtige und verlässliche Stimmen im Markt meinen, dass EY die Rechtsstruktur so umbaut, dass das Deutschland-Geschäft künftig in der übergeordneten EY-Einheit „EMEIA“ betrieben werden kann (das ist das Kürzel für „Europe Middle-East India Africa“). Dann wäre die derzeitige EY-Deutschland-Gesellschaft irgendwann verzichtbar, und man könnte sie liquidieren oder in die Insolvenz gehen lassen. Schadensersatzansprüche von Anlegern würden dann ins Leere laufen.
Es gibt einige Punkte, die darauf hinweisen, dass es einen solchen „Fluchtplan“ bei EY gibt, zumindest als „Plan B“:
- Der erste Punkt, der dafür spricht, ist die Beförderung des langjährigen Deutschland-Chefs Hubert Barth auf einen Posten in der europäischen EY-Struktur. Er ist dort kein „Frühstücksdirektor“, sondern er hat konkrete und wichtige Aufgaben. Welche Aufgaben können dies sein, wenn er nicht die wichtigsten deutschen Kunden in die neue Struktur „rüberziehen“ soll?
- Ferner spricht für unsere Annahme die absehbare Unmöglichkeit für EY Deutschland, Schadensersatz in Höhe von mehreren Milliarden EURO zu bezahlen. Was liegt näher, als die rechtliche Hülle der deutschen Gesellschaft langsam, aber sicher zu leeren?
- Man hört aus gut informierten Kreisen, dass EY Deutschland kaum Rückstellungen für Prozessrisiken bilde. Anhand der Veröffentlichungen im Bundesanzeiger konnten wir das zwar noch nicht verifizieren. Denn das Geschäftsjahr von EY Deutschland läuft vom 1. Juli jedes Jahres bis zum 30. Juni des Folgejahres, und der Abschluss für das Geschäftsjahr vom 1. Juli 2019 bis zum 30. Juni 2020 ist noch nicht im Bundesanzeiger veröffentlicht worden. Wir haben also noch keine offiziellen Daten für den Zeitraum, in dem der Wirecard-Skandal voll ausgebrochen ist. Aber Leute, die es wissen müssen, sagen, dass EY unverändert eine „Vollausschüttungsmaxime“ praktiziere, d.h. der gesamte verfügbare Ertrag wird von den Partnern als Gewinn entnommen. Wenn das so ist, dann schafft EY also keine Voraussetzungen, um eine große Zahl von Klägern befriedigen zu können.
- Last not least: Maßgebliche EY-Mitarbeiter haben Erfahrung damit, sich vor der Verantwortung zu drücken, einem Haftungsfall auszuweichen und das Geschäft an anderer Stelle neu aufzubauen bzw. fortzuführen. Denn diese Mitarbeiter waren früher für die große Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen tätig, vormals eine der „Big Five“-Firmen. Arthur Andersen ging zusammen mit dem ENRON-Konzern zugrunde. Jahrelang hatte Arthur Andersen die ENRON-Bilanzen beanstandungsfrei testiert und massive Falschbilanzierungen übersehen. Als ENRON insolvent wurde, sah sich Arthur Andersen großen Haftungsansprüchen ausgesetzt, die Arthur Andersen mit in den Abgrund rissen – aus den „Big Five“ wurden die „Big Four“. Große Teile der Arthur Andersen-Mannschaft für den deutschsprachigen Raum (Deutschland-Österreich-Schweiz) gingen damals gemeinsam zu EY. Ob diese Leute versuchen werden, erneut das Firmendach zu wechseln und ihr Geschäft mitzunehmen? Es liegt zumindest nahe.
Wenn man EY auf diese Fragen anspricht, erhält man folgende Antwort „Derzeit haben wir keine Absicht, die Rechtsstruktur im Deutschland-Geschäft zu verändern“ (Berliner Zeitung vom 20. April 2021). Wir meinen, dass ein klares Dementi anders aussieht und wir davon ausgehen müssen, dass mindestens ein „Plan B“ in dieser Richtung besteht. Wir glauben zwar nicht, dass eine Verlagerung des Deutschland-Geschäfts durch EY innerhalb der nächsten fünf Jahre durchgeführt werden kann. Denn Prüfmandate von DAX-Konzernen und andere wichtige Aufträge müssten in der EMEIA-Struktur neu begründet werden. Das geht nicht „von jetzt auf gleich“. Zum Beispiel müssen Prüfmandate bei börsennotierten Unternehmen durch Hauptversammlungsbeschlüsse neu vergeben werden. Das braucht seine Zeit. Wir meinen aber, dass die Überleitung vieler Kunden in eine neue rechtliche Struktur grundsätzlich machbar ist. Entscheidend ist, ob die Kunden von EY eine solche Flucht aus der Verantwortung mitmachen würden – und das scheint bei vielen Kunden so zu sein. Man hört jedenfalls häufiger den Satz: „Niemand hat ein Interesse daran, dass aus den „Big Four“ die „Big Three“ werden“.
Was folgt aus diesen Überlegungen für Ansprüche von Geschädigten? Soll man nun traurig den Kopf in den Sand stecken und die Rechtsverfolgung aufgeben? Unsere Antwort darauf: Ein ganz klares „Nein, wir greifen jetzt erst recht an!“. Wir sind davon überzeugt, dass man mit Schadensersatzklagen noch rechtzeitig kommen wird, wenn man jetzt loslegt. Vollstreckbare Urteile lassen sich in einem Jahr, maximal in zwei Jahren erwirken. Das ist rechtzeitig, um EY noch zur Zahlung zu zwingen. Wartet man hingegen den Ausgang eines Kapitalanleger-Musterverfahrens ab, so wird dies zu spät sein. Solche Musterverfahren können von EY problemlos über Jahre gezogen werden. Unsere Kanzlei hat große Erfahrung mit solchen Musterfeststellungsverfahren, von den ersten zehn KapMuG-Verfahren in Deutschland haben wir sieben selbst geführt, und wir haben auch den ersten positiven Feststellungsbeschluss vor dem Bundesgerichtshof zugunsten eines Musterklägers erwirkt (zum LBB-Immobilienfonds 13). Wir stehen dieser Verfahrensform also keinesfalls ablehnend gegenüber und haben noch in jüngster Vergangenheit einen positiven KapMuG-Beschluss in einem großen Schiffsfonds erwirkt (beim OLG Hamburg zum HCI Shipping Select XXV; das Verfahren liegt aber noch beim BGH). Bei allen Vorzügen des KapMuG-Verfahrens ist aber wichtig zu wissen, dass solche Verfahren häufig zehn bis 15 Jahre dauern. Und selbst dann liegen im besten Fall gerichtliche Feststellungen vor, aber noch keine vollstreckbaren Zahlungsurteile. Hinzu kommt, dass aus unserer Sicht erhebliche Unsicherheiten bestehen, ob ein Musterverfahren überhaupt zulässig ist. Selbst wenn einzelne Fragen zugelassen werden sollten, so wird eine umfassende Entscheidung über alle Rechtsfragen nicht zu erwarten sein. Sie werden dann noch einmal – selbst unter den günstigsten Umständen – in vielen Jahren eine Klage einreichen müssen. Unser Fazit ist daher: Wer auf ein Musterverfahren wartet, wird am Ende leer ausgehen. Das ist keine Schwarzmalerei, sondern ein aus jahrelanger Erfahrung sicher abzuleitender Befund.
Wir ziehen hieraus drei Schlussfolgerungen:
1. Wir leiten selbst keine Musterverfahren (KapMuG) ein.
2. Wir treten voll auf das Gaspedal und reichen laufend Klagen ein, so wie wir beauftragt werden.
3. Wir gehen davon aus, dass die entscheidenden Fragen ohnehin nicht in einem KapMuG-Verfahren entschieden werden. Die laufenden Verfahren werden nach unserer Einschätzung nicht ausgesetzt werden, da unsere Verfahren voraussichtlich nicht von den eingereichten Musterverfahren abhängen werden.
Noch ein Hinweis zu aktuellen Gerichtsentscheidungen: Das LG München l hat im Mai 2021 in zwei Verfahren anderer Anwaltskanzleien die Eröffnung eines Musterverfahrens nach dem KapMuG für unzulässig erachtet. Hintergrund zu diesen Entscheidungen ist, dass das Gericht davon ausging, dass es sich bei dem Bestätigungsvermerk eines Jahresabschlusses nicht um eine Kapitalmarktinformation handele. Ohne dies näher juristisch zu kommentieren, fühlen wir uns jedenfalls in unserer Linie bestätigt, den direkten Klageweg zu suchen.
3. Zuständigkeits-Pingpong zwischen Stuttgart und München
Die Landgerichte München und Stuttgart streiten um die Zuständigkeit für die Schadenersatzklagen gegen EY. Wie in Deutschland nicht anders zu erwarten, handelt es sich um einen „negativen Zuständigkeitskonflikt“, das heißt: Beide Gerichte wollen möglichst nicht zuständig sein. Das LG Stuttgart hat an die 140 im Zusammenhang mit dem Skandal stehende Klagen gegen den Wirtschaftsprüfer EY an das LG München I verwiesen. Dort sind damit aktuell etwa 400 Wirecard-Zivilklagen anhängig. Doch wollen die Münchner diesen Berg an Klagen nicht allein bewältigen. Aus diesem Grund hat das LG München I in 21 Fällen „Gerichtsstandbestimmungsanträge“ beim OLG Stuttgart gestellt. Sollte das OLG zu Gunsten Münchens entscheiden, werden die dort beteiligten Kammern voraussichtlich bei weiteren Fällen die Übernahme verweigern. Am OLG werde jeder Fall gesondert geprüft, erklärte eine Sprecherin in Stuttgart. „Die Entscheidung ist nur für das jeweilige Verfahren bindend.“ Möglicherweise wird am Ende der BGH entscheiden müssen, welches der Gerichte abschließend zuständig ist.
Wir reichen unsere Klagen unverändert in Stuttgart ein, weil wir dies auf Grundlage der ZPO für richtig halten. Derzeit haben wir etwa 205 Klagen für ca. 1.160 Kläger eingereicht. (Die Zahlen differieren, weil es sich bei den Klagen teilweise um Sammelklagen handelt, an denen eine ganze Reihe von Klägern beteiligt ist). An dem Zuständigkeitsgerangel zwischen Stuttgart und München beteiligen wir uns so wenig wie möglich, sondern handeln schlicht und einfach auf Basis dessen, was wir selbst als juristisch zutreffend analysiert haben. Sollte der BGH die Verfahren am Ende nach München verweisen, dann geht davon die Welt auch nicht unter, dann werden wir mit unseren Klägern halt „umziehen“. Wir konzentrieren uns auf die inhaltlichen Fragen und auf die Beweisführung zugunsten unserer Mandanten. Und auf diesem Gebiet kommen wir gut voran und halten Sie gerne weiter informiert.
Das Landgericht München hat in sechs Verfahren einer anderen Anwaltskanzlei klagabweisende Urteile erlassen. Diese Urteile liegen uns vor und sind aus unserer Sicht nicht überzubewerten, da offensichtlich wesentlicher Sachverhalt nicht vorgetragen worden ist. Es handelt sich um sehr früh eingereichte Klagen. Diese Urteile – die im Übrigen auch nicht rechtskräftig sind – dürften daher keinen Einfluss auf unsere eigenen Verfahren haben.
4. Einladung zu den nächsten Webinaren
Wir laden Sie herzlich zu unseren nächsten Webinaren ein:
Am 08. Juli 2021 um 18 Uhr deutscher Zeit. Dieses Webinar wird in deutscher Sprache abgehalten.
Am 20. Juli 2021 um 18 Uhr Central European Time (CET). Dieses Webinar wird in englischer Sprache abgehalten.
Sprechen werden:
- Prof. Dr. Kai-Oliver Knops, Universität Hamburg
- Rechtsanwalt Dr. Marc Liebscher, LL.M.
- Rechtsanwältin Dr. Susanne Schmidt-Morsbach und Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Schirp aus der Kanzlei Schirp & Partner Rechtsanwälte mbB
Mit freundlichen Grüßen im Namen unseres gesamten WIRECARD-Teams –
Ihr Dr. Wolfgang Schirp